Bratwurst-Pizza in Seeligstadt an der Beringstraße

„Insbesondere der ländliche Raum lebt wesentlich vom freiwilligen Engagement in Familien und Freundeskreisen sowie vom Ehrenamt in Vereinen und Verbänden. Hier gilt es die Rahmenbedingungen zu verbessern, eine lebendige Anerkennungskultur zu fördern und Erschwernisse abzubauen. […] Es geht um die Öffnung und Nutzbarmachung vorhandener Räume und Ausstattung für selbstorganisierte Freizeitgestaltung sowie um ein besseres Aufeinander beziehen lokaler Ressourcen und Expertise in der Rahmung des Aufwachsens junger Menschen.“

SMS; 2016: Eckpunktepapier des Landesjugendhilfeausschusses zur Eigenständige Jugendpolitik in Sachsen; S.16

Und schon sehe ich die Fragezeichen in den Augen der Leserschaft dieses kleinen Artikels. Aber keine Angst: aufgeklärt wird das Ganze am Ende des Textes. Zuvor ist es mir wichtig, eine junge Gruppe vorzustellen, welche voller Power mit alten, teils eingefahrenen Traditionen bricht und Räume im Großharthauer Ortsteil Seeligstadt neu erobert.

Der Mut, den lange niemand aufgebracht hat

Das klingt jetzt nicht so schwierig und war doch ein mutiger Schritt. Denn viele, viele Jahre fristete der Jugendclub – zwei Räume mit Sanitärtrakt, etwas Außengelände und ein bisschen Dachboden in einem Mehrfamilienhaus – ein eher „eingeschlafenes“ Dasein. Dass der Jugendclub nicht schon längst geschlossen war, lag an einer Handvoll Ehemaliger, die sich hin und wieder zu Quatsch- oder Fernsehabenden trafen und die Räume in Schuss hielten. Was auf der einen Seite ehrenwert ist, ist auf der anderen Seite aber auch etwas tricky. Denn solange das Dorf in den 2010er Jahren in einer demografischen Talsohle steckte, trauten sich die Jugendlichen nicht alleine in den Club. Da war der starke Sportverein mit seinen Jugendabteilungen attraktiver – da war man unter sich und hatte nicht das Gefühl, in die Räume der „Erwachsenen“ einzudringen. Dabei wäre es den älteren „Raumpflegern“ nur recht gewesen, das, was sie aufgebaut hatten, in junge Hände zu geben. Ein echtes Dilemma!

Seit eineinhalb Jahren tut sich nun was. Das mag an der immer größer werdenden Zahl 14- bis 20-Jähriger im Dresdner „Speckgürtel“ liegen – raus aufs Land zu günstigeren Mieten und in ein Eigenheim war elterlicher Trend der letzten Jahre. Aber das ist es nicht nur, was den Club jetzt aufleben lässt! Sich zu finden, den Mut zu haben, auf die ältere Generation zuzugehen und die Verantwortungsaufgaben so zu verteilen, dass es niemanden überfordert, ist das eigentliche Verdienst der „Nachrücker“. Der Jugendclub ist schon seit den 90ern eingetragener Verein. So ist nicht nur praktisch etwas zu tun, sondern auch ein Haufen Schriftkram und Behördengänge zu erledigen, mit denen man erst einmal klarkommen muss. Vereinsarbeit ist dabei nicht gleich Vereinsarbeit – es gibt Sichtbares und Unsichtbares. Beides sollte Anerkennung finden und braucht Zeit zum „Erlernen“. Hoch vom Sofa! möchte Jugendlichen helfen, zu lernen, sich auszuprobieren, zu gestalten und nicht in Ideen hängen zu bleiben, wie man sich seine Freizeitwelt selbst schaffen kann. Und da wird’s zum Glück auch wieder praktisch!

Raum erobern bedeutet Raum für sich gestalten

Denn das Erste, was eine Jugendclub-Gruppe in der Regel macht, wenn sie mit neuem Schwung im Treffpunkt landet, ist diesen so zu renovieren, dass es auch der „eigene“ Raum wird. Jede Generation hat da so seine Vorstellungen – und diese flossen auch in das mit heißer Nadel gestrickte Hoch vom Sofa! Projekt der neuen Jugendclub-Besatzung ein. Wie immer läuft das am Anfang etwas chaotisch und mit Fragezeichen versehen ab. Man war es gewöhnt, dass die „Nadel“ in der Hand des neuen Clubchefs David verbleibt. Und nun kommt ein Torsten vorbei und sagt, dass die 14-, 15-, 16-Jährigen Projekt-„Chef:in“ sind. Das muss erst einmal sacken. Um dem ungewohnten Gefühl etwas mehr Ausdruck zu verleihen, gab es dann eine Spinnstunde ganz ohne Vorstand – und siehe da: Was von den Teenagern rund um Anna und Tamija kam, war vollkommen realistisch, frei, kreativ und positiv.

Wort des Jahres ist nicht „Ampel-Aus“, sondern „Aktivwochen“

Die Auswertung im Oktober zeigte dann, dass fast alles geschafft war. Wirklich viel… die Palette der Ergebnisse reichte von…:

* einer zum Spielbrett umfunktionierten, bunt gestalteten Billardabdeckplatte (hier waren die Mädchen „Headcoach“)
* einer farblich abgestimmten Wandgestaltung in modernem Design (Olli nutzte hier gleich die Zimmerwand seines Bruders als Vorlage)
* einer peppig beleuchteten und frisch sanierten Theke (Marek und Robby finden, da „steckt unheimlich viel Arbeit drin“) … bis hin …:
* zu den intimsten Zimmerchen des Objekts, den mit lustigen Dekorationen versehenen Toiletten („Warum soll es hier nicht auch gemütlich sein?“, meinten alle).

Beeindruckt stellte sich mir automatisch die Frage, wie man so etwas in so kurzer Zeit schafft, ohne die Schule zu schwänzen. Als Antwort platzte Anna ein Wort heraus, das sich seitdem – immer mit einem Augenzwinkern – in meinem Kopf festgesetzt hat:

„Aktivwochen! Wir haben in den Ferien Aktivwochen gemacht. Sonst wäre es nicht geworden. Das heißt nicht, dass wir alle gleichzeitig gewerkelt haben, sondern dass in dieser Woche kleine Teams zu unterschiedlichen Zeiten an verschiedenen Teilen des Projektes gearbeitet haben. Und das hat richtig Spaß gemacht! Es war immer was los."

Dorf – Land – Fluss

Beim Abschlussbesuch bringt der Projektbegleiter in der Regel etwas Merchandising von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung mit. Da waren schon so lustige Sachen wie Sonnenbrillen, Handy-Aufsteller, Einkaufschips oder ein Hoch vom Sofa!– Kartenspiel- Sondereditionen dabei. Ich hatte dieses Jahr Quizblöcke mit „Dorf – Land – Fluss“ am Start. „Das hast du uns schon beim Erstbesuch gegeben“, meinte Tamija, „aber nicht schlimm! Wir brauchen eh einen neuen Block, weil wir das alles schon durchgespielt haben. Wenn du noch ein bisschen Zeit hast, können wir jetzt noch ne Runde spielen“. Und ich hatte Zeit.

Eigentlich finde ich ja, ich bin ein schlauer Quiz-Gegner, aber gegen den Einfallsreichtum der Dorf-Jugend waren meine Gewinnchancen an der Nuller-Linie. Ich kenne jetzt ganz neue sächsische Wörter, habe einen Plan von futuristischen Superhelden, weiß nun, dass die Beringstraße durchaus ein Fluss bei Seeligstadt sein könnte und dass Bratwurst als Pizzazutat die neue Trend-Cuisine werden wird.

So einen lustigen Projektabschluss habe ich selten erlebt! Danke, JCS!!